Kriminell oder trendy? Die Geschichte des Tattoos (2024)

Im deutschsprachigen Raum sind im Moment etwa 20 bis 25 Prozent der Gesamtbevölkerung tätowiert, unter den 20- bis 35-Jährigen sogar mehr als die Hälfte.

Der Trend zum Körperschmuck ist aber kein neues Phänomen. Der Wiener Anthropologe und Autor Igor Eberhard forscht unter anderem zur Kulturgeschichte der Tätowierung. Im Videocall mit der „Schwäbischen Zeitung“ spricht er über Seemänner als Vorreiter, Kaiserin Sisis Anker, wie Künstler mit Bildern auf der Haut Tabus gebrochen haben - und den Tattoo-Trend von heute.

Herr Eberhard, wie erklären Sie sich, dass Tätowierungen in unserer Gesellschaft so in Mode sind? Das ist doch ein merkwürdiges Phänomen im Zeitalter der flüchtigen virtuellen Identitäten.

Tätowierungen haben zwar den Anschein von etwas Permanentem - im Sinne von bleibender Veränderung am Körper -, aber sie sind längst auch ein Modeaccessoire. Sie sind beliebiger und austauschbarer geworden als früher. Denn parallel zum Tattoo-Boom gibt es heutzutage auch eine gesteigerte Nachfrage nach Tattoo-Entfernungen.

Die meisten gehen davon aus, dass das Wort aus dem Polynesischen, also aus der Südsee, kommt. Die Kunst hieß dort „tatau“, woraus im Englischen „tattoo“ und auf Deutsch „Tätowierung“ geworden ist. Es bedeutet so viel wie „Wunden schlagen“.

Igor Eberhard

Hat der Trend zum Körperschmuck auch etwas mit unserem Optimierungswahn zu tun?

Tätowierungen sind ein globales Phänomen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen. In unserer westlichen Gesellschaft hat der Körperschmuck auf jeden Fall etwas mit Selbstoptimierung zu tun. Man will schön sein, jung und dynamisch wirken und aussehen wie die Stars aus der Film- und Musikbranche oder dem Profifußball.

Woher stammt eigentlich das Wort Tattoo und was bedeutet es?

Es gibt verschiedene Theorien. Die meisten gehen davon aus, dass das Wort aus dem Polynesischen, also aus der Südsee, kommt. Die Kunst hieß dort „tatau“, woraus im Englischen „tattoo“ und auf Deutsch „Tätowierung“ geworden ist. Es bedeutet so viel wie „Wunden schlagen“.

Im Westen gelten Tattoos heute auch als Ausdruck von Individualität. War das schon immer so?

Nein, gerade bei den indigenen Kulturen hatten Tätowierungen sehr stark mit Gruppenzugehörigkeit zu tun. Sie standen für einen bestimmten Clan, für eine ethnische Gruppe oder für einen gewissen Status. Jede Familie hatte oft ihre eigenen Muster und Figuren. Nur in Ausnahmefällen war der Körperschmuck ein individueller Marker.

Die Tätowierung ist ja keine moderne Erfindung. Bis wann etwa lässt sich ihre Entstehung zurückverfolgen?

Es gibt Vermutungen, dass Farbpigmente schon bis zu 40.000 Jahre alt sein könnten - dass die Tätowierung vielleicht mit dem Aufkommen der Kunst entstanden ist. Das zu beweisen, ist jedoch schwierig, weil die Zeichnungen ja auf der Haut sind und die Körper verwesen. Die ersten wirklichen Spuren hat man bei der Gletschermumie Ötzi gefunden sowie bei Mumien aus Gebelein in Ägypten, die jeweils rund 5300 Jahre alt sind.

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Bei Ötzi geht die Wissenschaft davon aus, dass einige dieser Körperzeichnungen in Form von Linien und Kreuzen therapeutische Gründe hatten, weil sie teilweise auf Akupunkturpunkten liegen und bestimmten Krankheiten zugeordnet werden können. Schließlich sind verschiedene indigene Verfahren überliefert, bei denen Krankheiten traditionell mit Tätowierungen behandelt wurden.

Wie haben die Europäer Tätowierungen in ihrer heutigen Form kennengelernt?

Schon relativ früh. So gibt es bereits im Mittelalter Hinweise auf Tätowierungen, beispielsweise bei den Kreuzrittern. Vermutlich war es aber eher ein Randphänomen. Erst mit den Entdeckungsreisen der europäischen Seefahrer stießen Tätowierungen dann auf größeres Interesse. Das war etwas Neues, etwas Ungewöhnliches.

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Der Brite James Cook brachte im 18. Jahrhundert nicht nur einen dieser seltsam gemusterten Männer mit nach Hause. Auch viele Matrosen haben sich damals auf ihren Reisen stechen lassen. In den großen Häfen hat sich der Trend zum Körperschmuck dann verbreitet und blieb über lange Zeit erst einmal in diesem Umfeld.

Wie und wann fand die Tätowierung dann aus der Schmuddelecke?

Es gab verschiedene Wellen. Die erste war Anfang des 19. Jahrhunderts. Nach Angaben von Zeitungen sollen damals rund 20 Prozent der europäischen Bevölkerung tätowiert gewesen sein. So waren Tattoos auch in den Fürstenhäusern durchaus üblich. Man hat sie allerdings nicht öffentlich zur Schau getragen.

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Ein schönes Beispiel aus dem Hochadel ist Kaiserin Sisi, die sich viele Jahre später als 51-Jährige einen Anker auf die Schulter tätowieren ließ. Die zweite Welle war dann erst wieder in den 1980er-Jahren - ausgelöst durch die Subkultur der Punk-Rocker. In dieser Zeit war die Tätowierung vor allem ein rebellischer Marker.

Jetzt sind wir in der dritten Welle. Trotzdem gibt es Länder wie Japan, in denen Tattoos verpönt sind. Warum?

Die Wahrnehmung von Tätowierungen ändert sich immer wieder. In Japan werden Tätowierungen bis heute mit Kriminalität in Verbindung gebracht. Bekannt für ihre großflächigen Tattoos sind vor allem die Mitglieder der Yakuza, der japanischen Mafia, die in den 1960ern ihren Höhepunkt hatte. Ihre Tattoos reichen von den Schultern bis zu den Knien und sind Ausdruck von Loyalität, Mut und des eigenen Rangs. Lange Zeit hatten Tätowierte in Japan deshalb in öffentlichen Badehäusern keinen Zutritt.

Auch bildende Künstler haben das Tattoo früh für sich entdeckt. Welche waren wegweisend?

Am Anfang steht für mich Otto Dix, der die tätowierte Schaustellerin Suleika in den 1920er-Jahren porträtiert hat. Darüber wurde damals viel berichtet. Es war eine Sensation, dass Bilder auf der Haut so prominent dargestellt wurden.

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Aus heutiger Sicht ist das harmlos.

(lacht) Ja, in der Gegenwartskunst gibt es viele provokante Tattoo-Aktionen. Die Tätowierung tritt hier erstmals mit der Body-Art in Erscheinung. 1970 ließ sich Valie Export öffentlich ein Strumpfband auf den linken Oberschenkel stechen. Die österreichische Künstlerin hat die Sexualisierung der Frau durch den männlichen Blick schon früh ganz stark auf den Punkt gebracht.

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Um das Spiel mit Macht und Ohnmacht ging es Santiago Sierra. Der spanische Konzeptkünstler missbrauchte die verzweifelte Situation von Tagelöhnern und Drogenabhängigen, um ihre Körper als Ware zu benutzen. Bei einer Performance 1999 in Havanna waren es sechs arbeitslose junge Männer, die sich für je 30 Dollar eine waagrechte, kontinuierlich über alle Rücken laufende Linie tätowieren ließen. Auch heute noch ist das eine sehr krasse, menschenverachtende Aktion.

Tabus gebrochen hat auch Wim Delvoye. Etwa mit seinen tätowierten Schweinen zwischen 2004 und 2006.

In dieser Debatte ging es vor allem um die Frage: Darf man Tiere überhaupt tätowieren? Darf man ihnen diesen Schmerz antun? Weil es so viele Proteste in Europa gab, hat der Belgier das Ganze dann nach China ausgelagert und die Schweine dort auf einer Farm in narkotisiertem Zustand von Profi-Tätowierern verschönern lassen.

Aber das war ja noch längst nicht alles.

Genau. Wim Delvoye hat 2006 ein weltweites Tabu überschritten, als er den Rücken des Schweizer Musikers Tim Steiner mit einer großen Madonnenfigur tätowieren und seine Haut anschließend vermarkten ließ. Tim wurde von einem Hamburger Kunstsammler gekauft, der ihn zu Lebzeiten ausstellen oder verkaufen und nach seinem Tod die Haut auch konservieren darf.

Der Aktionskünstler Flatz hat vor Kurzem in München ebenfalls seine Haut mit 13 Tattoos an einen Sammler verkauft. Ist das mehr als nur Provokation?

Ich glaube schon. Da geht es im wahrsten Sinne des Wortes um „die Haut zu Markte tragen“. Normalerweise sind Tätowierungen an einen Träger gebunden und verschwinden mit seinem Tod. Außer, der Mensch wird - wie bei Flatz und Co. - zum Objekt gemacht. Es ist also ein makabres Spiel mit dem, was vom Menschen übrigbleibt. Zugleich kann man diese Aktionen auch als Anspielung auf den Reliquienkult in der Kirche verstehen, wo einzelne Körperteile von verschiedenen Heiligen präpariert und aufgehoben wurden und bis heute verehrt werden.

Mittlerweile verstehen sich auch viele Tätowierer als Künstler. Was waren früher typische Motive? Was heute? Gibt es da überhaupt Unterschiede?

Da liegen Welten dazwischen. Bei den Seefahrern waren es die Klassiker wie Anker oder Schiff, aber auch Pin-up-Girls oder Jesusfiguren. Heute gibt es eine enorme Vielfalt mit ganz neuen Entwicklungen. Ein Beispiel sind Soundwave-Tattoos, die gescannt und über eine Smartphone-App angehört werden können.

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